Was macht ein Deutscher, wenn er eine Auskunft benötigt? Er sucht sich die nötigen Kontaktdaten heraus und meldet sich telefonisch oder per Email. Nun möchte ich aber denselben Deutschen erleben, wenn er sich an die Hotline oder Email-Adresse der russischen Botschaft in Berlin wendet. Genau das habe ich gemacht, als ich wissen wollte, ob auch unsere Kinder einen HIV-Attest vorweisen müssen, wenn wir nach Russland wollen (was standardmäßig für Reisende mit Aufenthaltsdauer über 3 Monate gilt).
Zwei Tage lang rief ich vergeblich die Hotline der Botschaft an, ununterbrochen war sie besetzt. "Welch ein Andrang", dachte ich mir und fühlte mich herausgefordert, die Lücke zwischen den Telefonaten zu erwischen. Gleichzeitig schrieb ich eine Mail. Am zweiten Tag habe ich meiner Dozentin, die viel in Russland unterwegs ist, von der Unmöglichkeit berichtet, gegen Tausende Anrufer zu bestehen. Ihr Kommentar dazu: "Da geht keiner ran, das ist immer so". Auch die Mail werde ohne Antwort bleiben. Man müsse es so anstellen, wie die Russen: "Du musst schon hingehen."
Also nichts wie hin zur Botschaft, gleich am nächsten Morgen. Vorher noch ein Blick auf die Öffnungszeiten (üblicherweise 9 - 12 Uhr an Werktagen) - aha, bis Anfang März arbeitet die Konsularabteilung erst ab 10 Uhr. Der Hinweis steht jedoch nicht auf der Startseite (dort finden sich die sonst gültigen Öffnungszeiten), stattdessen muss man dem Link "Konsularabteilung" folgen. Gut zu wissen, denn wer wartet schon gern eine Stunde umsonst im Schnee?
10.15 Uhr: vor dem Eingang stand eine Traube Menschen, alle recht durchgefroren von einem Fuß auf den anderen trippelnd. Alles ältere Menschen russischer Herkunft - wohl kein Internet zu Hause. Einer von ihnen, der selbst auf Einlass wartete, sammelte die Pässe ein; er fragte mich, ob ich abgeben will. Kein Bedarf, sagte ich, ich brauche nur eine Auskunft von der Botschaft. Abgesehen davon würde mir nie einfallen, einer wildfremden Person meinen Pass auszuhändigen. Dies blieb allerdings nur ein Gedanke, den ich für mich behielt. Denn die versammelten Russen hatten damit scheinbar alle kein Problem (der Mann hielt an die 20 Pässe in der Hand). Wie sie auch kein Problem damit hatten, in kleinen Grüppchen Gespräche anzufangen, obwohl sie sich wahrscheinlich nicht kannten.
Die unsortierte Schlange schien dabei bestimmten Regeln zu folgen - Neuankömmlinge fanden instinktiv den Mann mit den Pässen, um sich danach einer Gesprächsgruppe anzuschließen und so aufzutreten, als stünden sie schon seit einer Stunde dort. Plötzlich war Berlin weit weg und Russland ganz nah: mir war klar, dass unser Studienaufenthalt nur dann funktionieren wird, wenn wir diese nicht fixierten Regeln kennenlernen. Ich brauchte eine Weile, bis ich merkte, dass es zwei Schlangen (eher trifft zu: zwei Trauben) gab - die einen gaben ihre Pässe ab, und die anderen gingen direkt zur Tür. Das habe ich dann auch gemacht.
Drinnen ging alles relativ schnell, was ich angesichts der vielen Menschen nicht erwartet hätte. Ich wurde an einen Schalter verwiesen, der sonst nur für Reisebüros da ist, und konnte meine Fragen stellen:
1. Müssen Kinder grundsätzlich den HIV-Attest mit sich führen?
2. Gilt die Pflicht zum Attest auch, wenn der Aufenthalt (ein Auslandssemester = 4 Monate) unterbrochen ist (knappe 3 Monate Russland - 2 Wochen Deutschland - 4 Wochen Russland)?
Die Antworten des Beamten, der mich beim Reden so gut wie garnicht angesehen hat und deshalb kaum zu hören war, fielen folgendermaßen aus:
1. Hängt von der Art des Visums ab, bei Arbeitsvisum wohl nicht. Ein studentisches Visum war für den Mann in Zusammenhang mit Kindern Neuland.
2. Wegen der zwischenzeitigen Ausreise entfällt die Attestpflicht (für uns Studenten).
Daraus kann man den Schluss ziehen, dass auch die Kinder kein Attest brauchen. Ich war beruhigt, dass uns das Mitführen eines Attests, das uns als "unbedenklich" einstuft, erspart bleibt. Um die Geduld des Beamten nicht zu überstrapazieren - er wurde mürrisch, weil er meine Frage nicht beantworten konnte, aber auch zum Nachschlagen nicht bereit war - bedankte ich mich für das Ergebnis, ohne in Erfahrung zu bringen, welche Regelungen, unabhängig von unserem Fall, grundsätzlich bei mitreisenden Kindern gelten.
Am Ende blieben zwei Bilder von meinem Besuch in der Botschaft haften: ein angenehmes, von den wartenden Menschen und ihren ungeschriebenen Gesetzen, die sich mit etwas Geduld offenbaren - und ein unangenehmes, von den Beamten und ihren geschriebenen Gesetzen, deren Offenbarung nicht von Geduld, wohl aber von Contenance abhängt.
Um die Russen an dieser Stelle nicht auf die Anklagebank zu setzen, sei betont: bis vor kurzem verlangten auch die USA ein HIV-Attest bei längerem Aufenthalt.