Panorama nach Südwest - aus der 28. Etage

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Sonntag, 11. April 2010

Trauer um polnische Opfer - auch in Moskau

Wieder sind es die äußeren Umstände, die uns dazu bringen, ein Post zu schreiben.

Ich bin polnischer Staatsbürger, wobei diese nationale Zuschreibung für mich seit langer Zeit keine Rolle mehr spielt. Seit über zehn Jahren lebe ich in Deutschland, und derzeit erweitert sich meine europäische Identität durch die Beschäftigung mit dem Osten Europas. Das Flugunglück in Smolensk, bei dem auf einen Schlag die führenden polnischen Politiker, Militärs und Finanzexperten ums Leben gekommen sind, betrachte ich daher nicht in seiner polnischen Dimension (obwohl dies eindeutig die wichtigste ist) und nur bedingt in der Dimension der polnisch-russischen Aussöhnung. Die Symbolik der Tragödie im Zusammenhang mit Katyń beherbergt sowohl große Chancen als auch schwere Lasten.

Mir geht stattdessen etwas anderes durch den Kopf. Würde man die europäischen Nationen als Figuren auf einer Einkaufsmeile darstellen, wäre Polen der bärtige Mann an der Kreuzung, der allen seine Wunden entgegenhält, um sich damit über Wasser zu halten. Dieser Mann befindet sich in einer Abwärtsspirale: keiner will sich ihm nähern, man wirft ihm von der Ferne Münzen zu. Er versinkt in seiner Verbitterung darüber und hat längst das "Danke" verlernt. Er gibt Acht, dass die Wunden - sein einziges Kapital - nicht ausheilen.

Der ehemalige Präsident Polens Lech Wałęsa hat in einem Kommentar zu dem Flugzeugabsturz das heute geschehene Unglück mit der Ermordung von Tausenden Mitgliedern der polnischen Elite in Katyń im Jahre 1940 verglichen, indem er sagte:   "To jest nieszczęście drugie po Katyniu, tam nam próbowano głowę odciąć i teraz też zginęła elita naszego kraju (...) Wyrwano nam po raz drugi część elity tego kraju"
(Übersetzt: Das ist das zweite Unglück nach Katyń, dort hat man versucht uns den Kopf abzuschlagen und nun starb ebenfalls die Elite unseres Landes (...) Zum zweiten Mal hat man einen Teil der Elite dieses Landes ausgelöscht).

Der polnische Kardinal Stanisław Dziwisz hat im Dom des Schlosses Wawel in Kraków eine Homilie verlesen, in der er u. a. den Tod der Flugzeuginsassen mit dem Opfertod Christi verglichen hat. Seine Ansprache stand im Kontext des Bibelzitats: „Tam gdzie przebywali uczniowie (...) Jezus wszedł, stanął pośrodku i rzekł do nich: »Pokój wam!«. A to powiedziawszy, pokazał im ręce i bok" (An diesem Sonntagabend hatten sich alle Jünger versammelt. (...) Plötzlich war Jesus bei ihnen. Er trat in ihre Mitte und grüßte sie: »Friede sei mit euch!« Dann zeigte er ihnen die Wunden in seinen Händen und an seiner Seite"). Hier einige Aussagen der Predigt: "Ufamy, że ich ofiara nie będzie daremna, ale że z niej, jak z ofiary krzyżowej własnego Syna, Bóg wyprowadzi dobro" (Wir hoffen, dass ihr Opfer nicht vergeblich ist, dass Gott aus ihm, wie aus dem Opfertod Christi am Kreuz, Gutes hervorbringt). Oder: "Ojczyzno! Doznałaś jeszcze jednego bolesnego doświadczenia, ale ufamy, że ofiara naszych braci i sióstr, którzy dziś ponieśli śmierć, zaowocuje dobrem, przyniesie pokój i pojednanie wszystkich Polaków." (Vaterland! Du hast eine weitere schmerzhafte Erfahrung erlitten, doch wir hoffen, dass das Opfer unserer Brüder und Schwestern, die heute den Tod fanden, Gutes hervorbringt und Frieden und Versöhnung aller Polen stiftet.).
Die Antwort auf das Geschehene darf sich nicht darin erschöpfen, dass der Mythos von Polen als dem ewigen Opfer und dem Christus der Völker aufgewärmt werden. Sie muss vor allem die tatsächliche menschliche Tragödie und die Tragödie für die polnische Gesellschaft (NICHT die Nation) in sich aufnehmen. Stattdessen wird bereits jetzt politisches Kapital daraus geschlagen (und das vor allem auf dem Rücken der Russen, siehe polnische Berichterstattung). Da ist er wieder, der Mann mit seinen Wunden.

Doch darf man hoffen, dass diese Katastrophe auch ein kleines bisschen Chance ist. Interimspräsident (und vielleicht der nächste amtierende Präsident) wird der Sejmmarschall Bronisław Komorowski. Er ist, wie der amtierende Ministerräsident Donald Tusk, Mitglied der "Bürgerplattform" (Platforma Obywatelska) und ein pragmatischer Politiker. Diese Konstellation würde den ständigen parteipolitischen Zwist zwischen Präsident und Regierung beenden und zur Demythologisierung der polnischen Politik beitragen. Wobei der Verlust so vieler fähiger Staatsmänner unzweifelhaft noch lange spürbar sein wird.

Und da ist noch etwas: in kurzer Zeit haben sowohl die Russen als auch die Polen einen Verlust auf menschlicher sowie auf nationaler Ebene erlitten. Dieselben Blumenmeere, die vor kurzem in den Moskauer Metrostationen die Trauer der Menschen ausdrückten, füllen jetzt den Platz vor der polnischen Botschaft in Moskau. Die Blumen stammen hauptsächlich von Russen. Wer bereit ist, in beiden Ereignissen den menschlichen Verlust und den gesellschaftlichen Schaden zu betonen, findet einen Weg zur Versöhnung, der, am politisch belasteten Kopf vorbei, direkt ins Herz führt.

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Noch ganz kurz über uns: Wetter ist prima, 17 Grad und Sonne, wir waren heute in der Umgebung spazieren. Ein Besuch auf einem Büchermarkt heute früh brachte reiche Beute: geschätzte 20 kg Klassiker und Literatur über Moskau. Katha war im Majakovskijmuseum. Beides, sowohl der Markt im olympischen Stadion (Metrostation "Prospekt Mira", Eintritt: 15 Rubel) als auch das Museum (Metrostation "Lubjanka", Eintritt für Studenten umsonst) ist sehr empfehlenswert. Nata geht seit Montag in die Kita, Janek übt Treppen steigen und spricht die ersten Worte.

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