Panorama nach Südwest - aus der 28. Etage

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Mittwoch, 3. Februar 2010

Auslandsstudium? Wozu das alles?

Diese Frage wird sich der eine oder andere von Euch verehrten Lesern wohl schon gestellt haben.

Zunächst einmal: ich studiere Slawistik und Katha Lehramt. Das Auslandssemester in Russland ist obligatorischer Teil meines Studiums, beziehungsweise wäre obligatorisch, denn bislang kann bei berechtigten Gründen eine Ersatzleistung erbracht und auf den Auslandsaufenthalt verzichtet werden. Offiziell sind nach meinem Kenntnisstand als Gründe vertretbar: schwere physische oder psychische Störungen und Kinder. Wobei die Auslandspflicht derzeit abgeschafft wird. Künftig werden auch Russisten akademische Grade erreichen, die nie einen Fuß in das Land gesetzt haben, dem ihr persönliches und wissenschaftliches Interesse gilt.

Und genau das wollte ich mir nicht nachsagen lassen. Alternativen hierzu wären gewesen, vier Monate Trennung auszuhalten oder gemeinsam zu gehen, als vollwertige Studenten (denn mitreisende (Ehe)Partner kennt unsere Gasthochschule nicht). Und so ist es auch gekommen.


Gibt es noch weitere Motive? Ja, die gibt es. Ich will sie mal aufzählen (ohne, dass die Reihenfolge mit ihrer Wertigkeit zu tun hätte).

Kulturelles Interesse: aus einer Enttäuschung (Russisch studieren, obwohl ich mich für Englisch beworben hatte) erwuchs mit der Zeit Zufriedenheit und später sogar Freude über die mir angebotene Notlösung. Ich bin voller Bewunderung für die russischen Leistungen und gleichzeitig sprachlos angesichts des Zustandes der dortigen Gesellschaft und ihres geschichtlichen Werdegangs. Ich freue mich auf den von westlichen Lesarten unverhüllten Blick. Für Katha ist die Reise in ein Land, dessen Sprache sie durch ihre Polnischkentnisse zwar einigermaßen versteht, aber kaum sprechen kann, wie ein zweites Mal erwachsen werden. Nata malte schon vor einem Jahr Zwiebeltürme und nannte sie "Moskau". In den letzten Tagen war sie gespannt wie eine Feder und fragte ständig: "Wie heisst das auf russisch?". Janek - alles wie gehabt, Schränke zum Ausräumen gibt es überall.

Forschungsarbeit: Wir beide haben als Teil unserer Bewerbungen jeweils ein Forschungsprojekt vorgestellt, das die bisherigen Schwerpunkte unseres Studiums zur Grundlage hat. Ich werde die Sprache der russischen Massenmedien auf bestimmte Schlüsselwörter hin untersuchen, in denen ganze Diskurse zusammengefasst werden und die die russischen Befindlichkeiten und Einstellungen gegenüber Europa betreffen. Zum Vergleich: die deutsche Mediensprache bedient sich im Umgang mit Russland solcher Schlüsselwörter wie Putinismus, Gasstreit usw., die zwar eine Vorstellung von den dahinterliegenden Diskursen geben, aber oft aus Gründen fehlender Sattelfestigkeit vorgeschoben werden. Katha betrachtet die Rolle Polens als eines (diskursiven) Raumes, der sich sowohl in Richtung Deutschland als auch in Richtung Russland ausdehnt. An der Art, wie in Deutschland bzw. Russland über Polen geschrieben wird, kann man auch die Einstellung des einen Polennachbars gegenüber dem anderen ablesen. Katha wird untersuchen, ob sich am russischen Polendiskurs die Einstellung Russlands zu Deutschland ablesen lässt - und wenn ja, mit welcher Tendenz.

Neuerfindung: und zwar unsere eigene. Wir sind nicht mehr "nur" ein studierendes Pärchen, sondern eine Familie von vier Personen. Unsere Träume und Ziele haben sich geändert und wir schauen bereits auf die Zeit nach dem Studium. Eine Auszeit von unserer angestammten Umgebung hilft uns dabei, dass jeder von uns den ihm gebührenden Platz und seine Rolle in dieser neuen Konstellation findet.

Es ist genau Mitternacht. In ca. 82 Stunden beginnt für uns das größte Abenteuer, auf das wir uns bisher eingelassen haben. Außer vielleicht der Kinder. Und unserer zweisprachigen Partnerschaft. Und unserer Pläne für die Zeit nach der Uni. Naja, eigentlich ist es so weltbewegend auch wieder nicht. Oder?

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