Panorama nach Südwest - aus der 28. Etage

Panorama nach Südwest - aus der 28. Etage

Donnerstag, 18. Februar 2010

Ein Volk von Kindernarren

Die Menschen in unserer Umgebung sind absolut verrückt nach den Kindern. Wir werden oft angesprochen, die Kleinen helfen uns so, Kontakte zu knüpfen. Besonders die Frauen hier schmelzen förmlich dahin. Die Kinder entlocken aber auch selbst dem strengsten Wachmann ein Lächeln. Manchmal treibt diese Narretei  jedoch seltsame Blüten.


Eine Frau, die in der Stolowaja (Mensa) arbeitet, hat es sich nach der ersten Woche zur Aufgabe gemacht, uns um jeden Preis vor dem Anstehen in der Schlange zu bewahren. Vorgestern kam sie zu uns und griff Katha am Arm, um sie - nicht gerade sanft - aus der Schlange zu ziehen und mit ihr bis nach vorn, zur Essensausgabe, zu gehen. Katha hatte Janek in der Trage und war viel zu verdutzt (ich übrigens auch), um zu protestieren. Die sehr resolute Dame hat sich zwischen drei Recken gezwängt und uns und unsere Tabletts kurzerhand dazwischen gepackt. Uns blieb nur der entschuldigende Blick zu den rüde auseinandergetriebenen 1,85 Meter großen Studis.
Gestern versuchte sie es wieder. Dies war unser Vabanquespiel: entweder wir setzen uns gegen diese entwaffnende Mischung aus enormer Hilfsbereitschaft und wenig Gefühl für Privatsphäre zur Wehr, oder es geht die nächsten vier Monate so weiter. Am Ende wurde es eine Art Kräftemessen: die Frau nahm Janek auf den Arm und stellte sich mit ihm als Druckmittel vorn an die Essensausgabe, hielt uns den Platz frei - und damit den ganzen Verkehr auf... Wir riefen ihr so nett wie möglich zu, sie solle es bitte lassen, wir wollten uns anstellen, wie jeder andere auch. Die etwa 100 Leute in der Schlange und doppelt so viele an den Tischen schauten dem Spektakel zu. Am Ende blieben wir siegreich - nach ca. 5 Minuten (die Schlange wurde immer länger, während die Kassiererinnen nichts mehr zu tun hatten) gab unsere Retterin in der Not auf und gab uns unser Kind wieder (der kleine Verräter - hat die ganze Zeit über herzlich mit ihr gelacht!). Sie ließ es sich dennoch nicht nehmen, eines unserer Tabletts zu tragen und uns einen guten Platz auszusuchen.
Auch bei den anderen Stolowajas (in unserem Jargon die Damen aus der Mensa) sind wir schon bekannt. Sie nehmen sich gern ein Päuschen beim Essenverteilen oder Kassieren, um mit Janek zu scherzen oder Nata ein russisches Wort beizubringen. Wir werden meist beim Bezahlen mit Salfetki (Servietten, die es an der Kasse gleich mit dem Wechselgeld gibt) für die Kinder überschüttet, wobei jeder sonst nur eine zugeteilt bekommt. Am Lustigsten ist immer, dass mit der Begeisterung über die Kleinen die Geschwindigkeit des Sprechens und die Zahl der Komplimente und Anekdoten exponenziell zunehmen. Dann verstehen wir nichts mehr und freuen uns dennoch über die lieben Worte und lächeln einfach.
Auch die Ochranas ("Ochrana" heisst "Sicherheitsdienst", sie sind uniinterne Ordnungskräfte) auf der Etage gehören zum Fanclub. Besonders zwei von ihnen herzen die Kinder bei jedem Treffen und heben sie hoch in die Luft, wobei die Initiative bei den Kleinen lag - sie tasteten sich langsam heran, bis sie sich vollkommen der Gutherzigkeit der beiden Männer sicher waren. Sie sind angesichts der fehlenden Altersgenossen für die Kinder gute Spielpartner - bzw. waren es, denn vorerst sind sie auf Heimurlaub fort.
Die Ochranas arbeiten nämlich im Zweiwochenrhytmus: zwei Wochen in Moskau (12 Stunden Arbeit am Tag in zwei Schichten), zwei Wochen bei der Familie im Hinterland. (Dieses Arbeitsmodell ist in Moskau bei Männern, die (relativ) wenig anspruchsvolle Berufe ausüben, keine Seltenheit.)
Überall, wo wir hinkommen, spüren wir, wie wegen der Kinder die Hilfsbereitschaft und das Entgegenkommen noch zunehmen.

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